Die böhmische Brüdergemeinde seit 240 Jahren in Berlin
Gerhard Gruschke Eichendorf
Die Kirche Evangelische Wochenzeitung, Jahrgang 25 / Nr. 1, Berlin, Sonntag nach Weinachten, 4. Januar 1970

Nicht ganz so klar liegen die Verhältnisse der Einwanderung der böhmischen Exulanten in den Raum Berlin und Umgebung, wie bei der Stammgemeinde in Herrnhut. Eine besondere Schwierigkeit dabei bildet die Tatsache, dass sich die Einwanderungen über mehrere Jahrhunderte erstrecken und Akten und Urkunden vielfach der Vernichtung preisgegeben waren. Jedenfalls gab es einst eine recht ansehnliche Brüdergemeinde mit eigener Kirche bzw. Kirchensaal in Berlin und Umgebung.

Es sind vier verschiedene Zeitabschnitte der Auswanderung um des Glaubens willen festzustellen. Die erste Verfolgungswelle erfolgte unter den Habsburgern bereits im 15. Jahrhundert und dauerte an bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Unter den Auswirkungen des Schmalkandischen Krieges wanderte ein großer Teil der Brüder zwischen 1547 und 1548 nach Polen und dem damaligen Ostpreußen aus, wo sie bei Herzog Albrecht im damaligen Königsberg Aufnahme fanden. Die größte Zahl von Exulanten wanderte zwischen 1620 und 1629 nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) und dem Prager Blutgericht (1621), dem sich eine Verfolgungswelle bis in das Jahr 1629 anschloss, überwiegend nach Sachsen, Schlesien und der Mark aus. Von Einer Einwanderung nach Berlin zu dieser Zeit ist jedoch nichts bekannt.

Die vierte Periode dieser Auswanderungswelle kann man unter Kaiser Karl VI., einen strengen Vertreter der katholischen Kirche, angeben. In diesem Zusammenhang stand auch die Vertreibung der Salzburger Protestanten, die im Jahre 1732 unter Friedrich Wilhelm I. im damaligen Ostpreußen angesiedelt wurden. Auf Grund dieser Tatsache wandten sich damals auch die böhmischen Brüder an den König. Bereits 1727 hatte sich eine größere Zahl von Exulanten, unter Leitung ihres Predigers Liberda, auf den Gütern der Baronin von Gersdorf in Großhennesdorf im Sächsischen niederlassen. Es ergaben sich dort aber Unstimmigkeiten, die dazu führten, eine Eingabe, ermuntert durch das Salzburger Beispiel, dem König vorzutragen. Eine Abordnung unter der Führung des Predigers Liberda zog nach Potsdam oder Berlin (?) und bat um Aufnahme der Brüder in Berlin und der Mark. Trotz mancherlei vorheriger Bedenken sagte der König Hilfe zu, nicht zuletzt wohl aus für ihn nützlichen Erwägungen. Er wusste, dass die Böhmen fleißig und geschickt waren, und so waren sie ihm willkommen als zukünftige Mitarbeiter  des Berliner Handwerks und Gewerbes. Nach verschiedenen Berichten sollen sich damals 2000 Brüder auf den Weg nach Berlin gemacht haben. Tatsächlich soll es sich aber nun um etwa 500 Personen mit 170 Familien gehandelt haben, die mit zwei Wagen über Görlitz und Lübben nach langer beschwerlichen Fahrt in einem Elendzustand in Berlin eintrafen. Unter ihnen befanden sich viele Handwerker, wie Bäcker, Schmiede, Schuster und Leineweber. Aus der königlichen Kasse wurde ihnen ein Vorschuss von insgesamt 6000 Talern gewährt – pro Familie 30, für die Einzelperson 6 Taler – der hauptsächlich zum Kauf von Material für ihre Gewerbe bestimmt war. Auch sonst sorgte man für Arbeit und Lebensunterhalt. Sie erhielten fernes freies Bürger- und Meisterrecht und für fünf Jahre Steuerfreiheit. In der ehemaligen Wilhelmstraße und der Friedrichstadt wurde ihnen freies Bauland überlassen. So entstand dort ein ganz neuer Komplex von 39 Häusern. Wesentlich war aber vor allem Dingen die ihnen vom König zugesicherte freie Religionsausübung. Ihre Zusammenkünfte hatten die Brüder zunächst in Sälen und Privathäusern, u. a. im Haus des Postmeisters Burchard und im Haus des Hofrats Koch.

 
     
 

 

Bethlehemskirche in Berlin-Neukölln
1731 - 1945
Ecke Krausen- und Mauerstraße

 
Später erhielt sie die Erlaubnis, die Petrikirche mit zu benutzen. Direktor dieser neuen böhmische Kolonie war der Geheimrat von Herold, der von König dazu eigens bestimmt wurde. Die Böhmen bestanden weiter darauf, ihr kirchliches Eigenleben zu wahren. Nicht zuletzt deswegen, weil viele der Brüder die deutsche Sprache nicht beherrschten. Ihr Führer, der Prediger Liberda, war auf einer Fahrt durch Sachsen „wegen politischen Untriebe“ verhaftet worden und wurde auf Festung Königstein gefangen gehalten. Durch den König erhielten sie Andreas Macher aus der Gegend Cottbus, der polnisch und tschechisch sprach, als neuen Prediger. Außerdem standen ihnen als Geistliche und Berater Penzger, Pakosta, Seibus, Goßner, Jänicke, Rückert und Daniel Ernst Jablonski – ein Enkel von Jan Amos Comenius – Bischof der Brüdergemeinde im 17. Jahrhundert – zur Verfügung. Den ersten Berliner Exulanten folgten auf Grund weiterer Verfolgungen im Jahre 1732 bis 1737 weitere nach. Auch ihnen wurde Hilfe durch den König zuteilt. Da durch diesen Zuwachs die bisherigen Räumlichkeiten zu klein wurden, ließ der König Ecke Krausen- und Mauerstraße eine kleine Rundkirche, die Bethlehemskirche, erbauen. Benannt nach der Kapelle in Prag, in der Hus gepredigt hatte. 1731 wurde der Grundstein dafür gelegt. Am Sonntag Jubilate des Jahres 1737 fand die feierliche Einweihung statt. Für die Grablegung wurde ihnen der Friedrichstädtische Friedhof zugewiesen. Zu dieser Zeit entstand eine eigene böhmische Literatur. Ein böhmisches Gesangbuch wurde in Halle gedruckt.
 
     
  Krausen- / Mauerstrasse
[U6 - Stadtmitte]
nedaleko / unweit von Checkpoint Charlie
 
 

Zde stával Betlémský chrám
Hier stand die Bethlehemskirche
 
 

Aber auch in den Vororten von Berlin entstanden Brüdergemeinden, so z.B. in Rixdorf (den heutigen Neukölln). Das böhmische Dorf mit seinem Kirchsaal (letzterer wurde im Krieg zerstört) steht heute inmitten dieses Bezirks. Auch diese Brüdergemeinden hatten ihre eigenen Prediger und benutzten für die Gottesdienste die deutschen Kirchen. Sie hatten auch die Ostersitte der Herrnhuter übernommen und gingen in alter Tracht vor Sonnenaufgang auf die Gottesacker, wo sie der Toten des vergangenen Jahres gedacht. So gab es neben Deutsch-Rixdorf das Dorf Böhmisch-Rixdorf als eigenständige Gemeinde. Die strohgedeckten Gebäude gingen 1849 bei einem großen Brand in Flammen auf. Dennoch hat sich der dörfliche Charakter bis in unsere Tage erhalten. Erst 1874 wurde beide zu einer Gemeinde vereinigt.

Um 1740 und später machte sich ein Absinken der Zahl der Brüder in Berlin bemerkbar. Durch den Zuzug von mährischen Brüdern, die von Grafen Zinzendorf sehr gefördert wurden, ergaben sich beachtliche Streitigkeiten, hauptsächliche wegen der Form der Abendmahlsfeier. Es kam zu Spaltungen und Gründungen von lutherischen und reformierten Gemeinden. 1747 berief Friedrich II. eine Kommission, vor der sich alle Böhmen in der freier Entscheidung erklärten konnten, welche Konfession sie angehören wollten. Das Ergebnis war folgendes:

 
     
 
 

Mitglieder

Berlin Rixdorf

Lutherische Kirche

108 0

Reformierte Kirche

129 4

Zinzendorfische Sekte
(Brüdergemeinde)

114 65

Entscheidung der Böhmen im 1747,
welcher Konfession sie angehören wollen.
 
     
 

Im Laufe der folgenden Zeit wurden die Böhmen eingedeutscht. Nach 1738 wurde die Gottesdienste bereits überwiegend in deutsch gehalten. Am Eingang des böhmischen Dorfes (An der heutigen Richardstraße und Kirchstrasse) hat die böhmische Gemeinde Friedrich I. im Jahre 1912 ein Denkmal zur Erinnerung an die Aufnahme der böhmischen Exulanten errichtet. Auf einem Relief am Sockel ist der Einzug der Exulanten dargestellt. Als Rixdorf Stadtrecht erhielt, wurde der symbolische Kelch der böhmischen Brüdergemeinde in das Stadt-Wappen aufgenommen. Er wird auch heute noch im Wappen des Stadtbezirks Neukölln geführt.

Es gab im 18. Jahrhundert ferner böhmische Brüdergemeinen in Schöneberg, Boxhagen, Friedrichshagen und Schönerlinde bei Köpenick.

Aber auch unter Friedrich II. wurden die böhmischen Brüder gefördert, so u.a. in Nowawes (böhmisch-slawische Bezeichnung für Neuendorf) bei Potsdam, wo sich böhmische Weber ansiedelten. Sie hatten hier eigene Kirchengemeinden, eine eigene Kirche und eigene Prediger. Der ursprüngliche Charakter dieser Siedlung ging infolge der Vermischung mit deutschen Kolonisten fast verloren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch gerade hier das soziale Elend der Weber seinen besonderen Ausdruck gefunden hat.

Eine kleine Brüdergemeine besteht noch heute (1969) in Berlin, sowohl in der Innenstadt, wie im westlichen Bezirk Neukölln. Die Bethlehemskirche wurde auch eine Opfer des letzten Krieges. Viele Namen böhmischen Abstammung haben sich bis heute im Berliner Raum erhalten. Der Zuzug der böhmischen Brüder nach Berlin hat, ähnlich wie der der Hugenotte, zur wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt und der Mark infolge ihrer Kunst- und handwerklichen Fähigkeiten beigetragen. Aber auch im allgemeinen kirchlichen Leben der Stadt haben sie trotz ihrer Eigenständigkeit gemäß der Zinzendorfschen Weisung befruchtend gewirkt. Seit 1727 singen die Herrnhuter Brüder:

 
 


Auch denken wir in Wahrheit nicht,
Gott sei bei uns alleine.
Wir sehen, wie so manches Licht
auch andere Orten scheine.
Da pflegen wir denn froh zu sein
und uns nicht lang zu sperre;
wir deinen ihm und ihm allein,
den einen großen Herrn.

 

 
  Legt man das Jahr 1729 für die ersten böhmischen Einwanderer nach Berlin zugrunde, so konnte die Berliner Gemeinde 1969 auf ihr 240jähriges Bestehen zurückblicken.  
     
 
Rixdorf today Rixdorf dnes
Metro U7,
stanice Karl-Marx-Str.
Rixdorf heute
 
 
V upomínku
na veliký po¾ár dne 28. dubna 1849,
který nám vzal ve¹kerý majetek,
S Bo¾í pomocí v tém¾e roce opìt vystavìno.
Mare¹ a Strakoò Budova bývalé ¹koly a vzdìlávacího ústavu bratského sboru
V upomínku
na veliký po¾ár
dne 28. dubna 1849,
který nám vzal ve¹kerý majetek,
S Bo¾í pomocí v tém¾e roce opìt vystavìno.
Mare¹ a Strakoò
Dùm v Richardstrasse
Ein Haus in der Richardstrasse
Budova bývalé ¹koly a vzdìlávacího ústavu
bratského sboru.
Dne 2. bøezna 1753 pora¾en první strom ke stavbì domu.
Základní kámen byl
polo¾en  21. kvìtna 1753.
Zasvìcení 14. listopadu 1753.
Èinnost ústavu ukonèena 1770. Dále a¾ do roku 1909 jako ¹kola bratského sboru. Nestar¹í dochovaná ¹kolní budova v Neuköllnu. 1980/82 dùkladná restaurace zacho-vávající pùvodní stavební podstatu. Kalich ve ¹títì pøipomíná r. 1737  sem pøijaté èeské nábo¾enské exulanty. V letech 1754 a¾ 1761 se zde nacházela první modlitebna rixdorfského bratského sboru.
(Pod památkovou ochranou)
 
       

Východní strana
Ostseite
des Gestelles

Friedrich Wilhelm II.
(*1688   †1740)

Èelní stìna postavce pomníku
Stirnseite
des Gestells

Západní strana
Westseite des Gestelles
       

Budova bratrského sboru v Kirchgasse
Gebäude der Brüdergemeinde in der Kirchgasse

Vchod do bratrského sboru dnes
       
 
Dne¹ní Richardstrasse
Heutige Richardstrasse
 
       
 

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